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Politik beim Eurovision Song Contest – ein bedenklicher Trend?

Als internationaler Musikwettbewerb mit jährlich über 200 Millionen Zuschauern hat der 1956 erstmals ausgestrahlte Eurovision Song Contest eine beachtliche Fangemeinde angesammelt. Mit Musik als hauptsächlichem Fokus soll der Wettstreit von Komponisten und Songschreibern Aufmerksamkeit für die auftretenden Künstler generieren und das allgemeine Musikinteresse des sehr breit gefächerten Publikums fördern.

Seit Jahren verstärkt sich bei großen Teilen der Zuschauer jedoch die Haltung, dass die Musik beim Eurovision Song Contest ganz und gar nicht mehr im Mittelpunkt steht. Stattdessen sind viele der Meinung, dass sich bestimmte Länder aus rein politischen Gründen regelmäßig Punkte zuschieben und damit einen fairen Wettbewerb verhindern. Doch sind diese Vorwürfe wirklich begründet? Schließlich ist das heimische Publikum nicht allein für die Wertungen der Auftritte verantwortlich, denn zur Hälfte fließt die Meinung einer professionellen Jury in die Punktevergabe der jeweiligen Länder ein. Im Zuge des schon bald anstehenden ESC 2017 in Kiew haben wir uns angesehen, ob es konkrete Hinweise gibt und welche Rolle Politik beim Eurovision Song Contest spielt.

Gibt es Regulierungen für Politik beim Eurovision Song Contest?

Man mag es kaum glauben, doch offiziell verbieten die von der European Broadcasting Union festgelegten ESC-Regeln politische Botschaften während des spektakulären Gesangswettbewerbs. In den Regularien heißt es deutlich: „Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur sind während des Contests untersagt.“

„Wenn wir davon ausgehen wollen, dass der ESC auch politisch ist oder sein kann, dürfen wir nicht vergessen, dass sich dies manchmal positiv, aber auch negativ auswirken kann.“ – Cathrin Kahlweit

Schon seit Beginn der umfangreichen Historie des Eurovision Song Contests lässt sich allerdings oft beobachten, dass diese Regel keinesfalls einer strengen Auslegung unterliegt. In den zahlreichen Wettstreits der Vergangenheit wurden regelmäßig Kriege kritisiert, vorherrschende Meinungen bemängelt oder die Aufmerksamkeit auf politisch kontroverse Thematiken gelenkt. Zu einer bedeutenden negativen Konsequenz haben Auftritte dieser Art zumindest im Hinblick auf den ESC für die betroffenen Teilnehmerländer noch nicht geführt.

Eurovision Song Contest 2016 – Trend zu Politik im großen Stil

Armenien und Aserbaidschan – ein politischer Konflikt

Die zu diesem Zeitpunkt jüngste Ausgabe des Eurovision Song Contests löste starke Kontroversen aus, denn im Jahr 2016 war der ESC in Stockholm so politisch wie lange nicht mehr. Bereits im Halbfinale drohte der armenischen Teilnehmerin Iweta Mukutschjan eine vorläufige Disqualifikation, da sie entgegen des Regelwerks eine Berg-Karabach-Flagge in die Kamera hielt.

Im Finale wiederholte sie diese auf den Berg-Karabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan zurückzuführende Handlung nicht, aber diesmal brachte ein Fan eine entsprechende Flagge mit. Nachdem er die Fahne während der Show wedelte, wurde er prompt vom Sicherheitspersonal aus der Halle befördert. Dies zeigt: Die im Reglement von der EBU vorgeschriebenen Richtlinien zu politischen Botschaften gelten nicht nur für die Künstler, sondern auch für die Zuschauer.

Russland als umstrittener Kandidat beim Eurovision Song Contest 2016

Im Vorfeld galt Russland aufgrund der für den ESC aufwendig inszenierten High-Tech-Show als einer der Favoriten. Aus politischen Gründen wurde die russische Teilnahme dennoch kritisch betrachtet. Schon im Jahr 2014 galt der überraschende Sieg des österreichischen Travestiekünstlers Conchita Wurst als indirekter Seitenhieb gegen die weitgehend als schwulenfeindlich gesehene Politik von Wladimir Putin.

„Man kann nicht erwarten, dass sich Conchitas Auftritt auf Homophobie auswirkt, aber Menschen, die Russlands Politik ablehnen, ihrer Wut keinen Ausdruck verleihen.“ – Cathrin Kahlweit

2016 wurde das heiß diskutierte Thema wieder aktuell und auch diesmal gab es für Russland trotz eines guten Ergebnisses einen unerfreulichen Sieger. Während sich der Russe Sergei Lasarew mit dem dritten Platz begnügen musste, ließ die ukrainische Sängerin Jamala den zweitplatzierten australischen Konkurrenten mit dem Lied „1944“ knapp hinter sich. Die Jury war anderer Meinung: Sie bewertete Australien mit 320 Punkten am besten, während die Ukraine „nur“ 211 Punkte erhielt. Allerdings bedachten die Zuschauer die australische Interpretin Dami Im lediglich mit 191 Punkten und favorisierte die Ukraine durch eine Wertung von insgesamt 323. Interessant ist, dass der Song dadurch sowohl beim Televoting als auch bei der Jury jeweils Zweiter wurde, aber trotzdem gewann.

Unerfreulich für Russland ist diese Entwicklung, weil die Krimkrise derzeit politisch sehr heikel für die beiden Länder ist und sich das Lied „1944“ thematisch nah an der Problematik befindet. Inhaltlich erzählt sie darin von ihren krimtatarischen Urgroßeltern, die unter dem Stalin-Regime von der Krim vertrieben wurden. Einen direkten Bezug zur aktuellen Krim-Lage leugnet Jamala. Dass der Text aber keinen politischen Hintergrund hat, scheint wenig glaubhaft. Zudem ist er zeitnah am Ausbruch der Krimkrise entstanden. Feststeht, dass hier die Regel bezüglich politischer Botschaften beim Eurovision Song Contest wohl so rigoros ignoriert wurde, wie es seit Langem nicht mehr der Fall war.

Eurovision Song Contest – ein Trend zu Pop und Politik?

Politik als deutlich mitschwingender Aspekt beim Eurovision Song Contest ist seit dessen Entstehung keine Besonderheit. Nichtsdestotrotz lässt sich gerade im Hinblick auf die verstärkte Präsenz politischer Botschaften im ESC 2016 beobachten, dass sich der Trend des Musikwettbewerbs zunehmend in eine politische Richtung entwickelt. Ist dies nicht nur inhaltlich, sondern ebenfalls in der Bewertung der Teilnehmer untereinander feststellbar? Wird dabei die Qualität der ursprünglich im Mittelpunkt stehenden Musik vernachlässigt?

Trend der letzten zehn Jahre bei der Punktevergabe im Eurovision Song Contest

Um dies herauszufinden, wurden zahlreiche Studien durchgeführt, die sich auf die Wertungsdaten der vergangenen Jahre stützen. Wir haben uns hierbei im Speziellen die durchschnittlich von den Teilnehmerländern vergebenen Punkte der letzten zehn Jahre angesehen. Zunächst lässt sich festhalten, dass es zwischen den Ländern entgegen vieler Befürchtungen keine Fraktionen gibt, die sich entschlossen gegen die restlichen Teilnehmer verschworen haben – eine gewisse Tendenz ist aber erkennbar.

Deutschland hat beispielsweise mit 10,3 Punkten pro Jahr durchschnittlich seine höchsten Wertungen an die Türkei vergeben, was unter Umständen auf die verhältnismäßig große türkische Population des Landes zurückzuführen ist. Das am zweithöchsten von Deutschland bewertete Land ist Australien, wobei der Abstand groß ist – 6,25 Punkte beträgt hier der Durchschnitt. Umgekehrt ist die Türkei aber nicht einmal unter den zehn Ländern vertreten, die Deutschland während der letzten zehn Jahre am besten bewertet haben. Von einem politisch motivierten gegenseitigen Gefallen kann hier also keine Rede sein.

Ein ähnliches Punkteverhältnis herrscht zwischen Schweden und Australien. Schweden bewertete Australien durchschnittlich mit 12 Punkten, während Norwegen mit deutlich niedrigeren 6,87 Punkten die zweitmeisten Punkte erhielt. Auch hier ist auffällig, dass Australien den „Gefallen“ äquivalent zur Türkei nicht erwiderte. Vereinzelt sind vergleichbare Situationen auch bei anderen ESC-Ländern zu beobachten, doch alles in allem sind die Punkteverteilungen öfter ausgeglichen.

Politische Voting-Blöcke beim Eurovision Song Contest

Obwohl die Wertungsverhältnisse zwischen den Teilnehmerländern beim Eurovision Song Contest oft ausgeglichen sind, gibt es einige deutliche Hinweise darauf, dass sich manche Länder gegenseitig tendenziell bei der Abstimmung favorisieren. Der Vergleich unterschiedlicher Studien zeigt zwar, dass die hierzu ermittelten Ergebnisse verschieden ausfallen, sich aber einzelne Voting-Blöcke vermehrt herauskristallisieren.

Sieht man sich zum Beispiel die vergangenen Punktevergaben von Weißrussland an, so stellt man fest, dass das Land seit seiner Trennung von der Sowjetunion im Jahr 1990 mehr als doppelt so viele Punkte an Russland vergeben hat wie an andere Teilnehmer. Außerdem ging insgesamt fast ein Drittel der Punktzahl an Russland oder die Ukraine. Ähnliches liegt bei dem Verhältnis zwischen Griechenland und Zypern vor. Zypern vergab mehr als dreimal so viele Punkte an Griechenland wie an andere Länder, zumal Griechenland den Gefallen erwiderte und Zypern im Vergleich zu den restlichen Kandidaten mit doppelt so hohen Bewertungen ehrte.

Hauptsächlich tauchten in den von uns betrachteten Studien vermehrt folgende Voting-Blöcke auf:

  • die ehemalige Sowjetunion und dessen Satellitenstaaten in Osteuropa
  • Skandinavien
  • der Balkan

Eurovision Song Contest – ist Politik ausschlaggebend?

Während die Wertungsverhalten der Teilnehmerländer nicht auf eine Art Verschwörung schließen lassen, ist trotzdem ein zwischen den einzelnen Ländern favorisierender Trend sichtbar. Ob die Anomalien in den Punktevergabe-Mustern auf politische Gründe zurückzuführen sind, ist aus den erhobenen Daten nicht ersichtlich. Erkennbar ist jedoch, dass solche Punkte-Austausche oft zwischen geografisch nah beieinander liegenden Staaten stattfinden . Eine gewisse politische Affinität könnte bei der Wertung im Eurovision Song Contest also eine Rolle spielen.

Man sollte aber nicht außer Acht lassen, dass Musikgeschmäcker häufig kulturell bedingt sind. Besitzen mehrere Länder eines Kulturkreises eine derartige interkulturelle Nähe, fördert dies nicht nur die generelle Sympathie in der Wahrnehmung untereinander, sondern bietet auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, den Geschmack der Zuschauer des jeweils anderen Landes zu treffen. Ein Voting-Block um die skandinavischen Länder ist daher nicht überraschend und muss keinesfalls politischer Natur sein. Insgesamt sehen wir den politischen Trend beim Eurovision Song Contest im Zuge der letzten Jahre durchaus als wachsend, denken aber nicht, dass vermeintlich vorhandene Voting-Blöcke stets politisch bedingt sind, sondern auch einfach durch den Musikgeschmack begründet sind.

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